keltische Erzählkunst aus Wales

keltische Erzählkunst aus Wales
keltische Erzählkunst aus Wales
 
»Croeso i Gymru«, »Willkommen in Wales«, - so grüßt das Schild am Straßenrand den Reisenden, der vom englischsprachigen Teil der britischen Hauptinsel in den keltischsprachigen Westen wechselt. Hierzulande kaum bekannt, erstreckt sich die reiche Tradition kymrischer, das heißt walisischer Literatur von der Gegenwart bis zurück ins frühe Mittelalter, als die Eroberungszüge der Angelsachsen noch der jüngsten Vergangenheit angehörten. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, sind uns die ältesten Zeugnisse dieser Literatur in circa 100 Manuskripten aus dem 13. bis 15. Jahrhundert überliefert. Sammelhandschriften wie etwa das »Schwarze Buch von Carmarthen« (»Llyfr Du Caerfyrddin«), das »Buch Taliesins« (»Llyfr Taliesin«), das »Buch Aneirins« (»Llyfr Aneirin«), das »Rote Buch von Hergest« (»Llyfr Coch Hergest«) und das »Weiße Buch von Rhydderch« (»Llyfr Gwyn Rhydderch«) bezeugen die Vielfalt der Stoffe, Themen und literarischen Gattungen. Neben Werken, die die Überlieferung den sagenumwobenen Dichtern Aneirin, Taliesin und Myrddin (Merlin) zuschreibt, stehen Preisgedichte auf walisische Fürsten des 12. bis 14. Jahrhunderts, juristische und medizinische Texte, kymrische Bearbeitungen lateinischer historischer Werke, religiöse Erbauungsschriften, grammatische und metrische Abhandlungen sowie Genealogien und Sprichwörter. Ein ganzes Panorama walisischer Erzählkunst bieten allein die Geschichten, die seit gut 150 Jahren unter der Bezeichnung »Mabinogion« bekannt geworden sind.
 
Als »Mabinogion« bezeichnete Charlotte Guest eine Sammlung mittelalterlicher kymrischer Erzählungen, die sie mithilfe sprachkundiger Helfer ins Englische übertragen und in den Jahren 1838 bis 1849 veröffentlicht hatte. Zwar ist die Form »Mabinogion« als Mehrzahl des - in seiner ursprünglichen Bedeutung unklaren - Wortes »Mabinogi« im Mittelkymrischen nur ein einziges Mal belegt und beruht allem Anschein nach auf einem Schreibfehler, doch hat sich der Name als Sammelbezeichnung von elf mittelkymrischen Erzählungen heute allgemein durchgesetzt. Den Anfang der Sammlung bildet ein Kranz von vier Erzählungen, die in den Handschriften als »Die vier Zweige des Mabinogi« (»Pedair Cainc y Mabinogi«) bezeichnet werden. Ihr anonymer Verfasser lebte vermutlich im 11. Jahrhundert und verarbeitete Stoffe und Motive aus Märchen, Sagen und vorchristlichen Mythen, die zuvor mündlich überliefert worden waren. In der uns vorliegenden Fassung erscheinen die Erzählungen als Geschichten zur Unterhaltung eines mittelalterlichen adligen Publikums. Sie spielen in einer nicht näher bezeichneten Vergangenheit und handeln von den Abenteuern und wunderbaren Erlebnissen einer Vielzahl von Personen, deren Schicksale oft nur lose miteinander verknüpft sind.
 
Zwei weitere Erzählungen schildern Ereignisse, die sich in der Frühzeit Britanniens zugetragen haben sollen. Die »Geschichte von Lludd und Llefelys« (»Cyfranc Lludd a Llefelys«) berichtet davon, wie der britannische König Lludd mithilfe seines klugen Bruders Llefelys sein Land von drei Plagen befreit. Die Erzählung vom »Traum des Macsen« (»Breuddwyd Macsen«) erzählt vom römischen Kaiser Macsen, der sich aufgrund eines Traumgesichts in die britannische Prinzessin Elen verliebt, sie nach der Eroberung Britanniens heiratet und ihren Vater mit der Herrschaft über die Insel belehnt.
 
Für die weitere Entwicklung der europäischen Literatur und Kultur sind die übrigen fünf Erzählungen vielleicht die bedeutendsten: In ihrem Mittelpunkt steht der ursprünglich keltische Sagenheld Arthur, der im 12. Jahrhundert durch die Vermittlung Geoffreys of Monmouth und seiner Nachfolger zum Inbegriff der höfischen Kultur wurde - eine Entwicklung, die ihrerseits die keltischen Literaturen beeinflusste. Drei dieser Erzählungen, die man im Kymrischen gern als »die drei Romanzen« (»Y Tair Rhamant«) bezeichnet, erinnern stark an die Versromane des altfranzösischen Dichters Chrétien de Troyes. Wie in diesen Dichtungen - oder auch in ihren mittelhochdeutschen Bearbeitungen - spielt die Handlung der drei Romanzen in einer Märchenwelt, und die Schilderungen der materiellen und geistigen Kultur sind durchweg den Idealen der höfischen Gesellschaft des 12./13. Jahrhunderts verpflichtet. Auch die satirische Erzählung vom »Traum Rhonabwys« (»Breuddwyd Rhonabwy«), die den Titelhelden im Schlaf von einer schmutzigen Herberge in das glänzende Heerlager Arthurs versetzt, ist ohne die Entwicklung des kontinentalen höfischen Romans kaum denkbar. Dagegen bewahrt die Geschichte der »Brautwerbung Culhwchs um Olwen« (»Mal y kavas Kulhwch Olwen«) eine Fülle altertümlicher Züge, die man in den Versromanen etwa Chrétiens de Troyes oder Hartmanns von Aue vergeblich sucht. Hier zeigt sich eine Freude am Fabulieren und an der Sprachbeherrschung, wie sie schon die Römer an den Galliern bewunderten und wie sie sich gerade in Wales bis auf den heutigen Tag gehalten hat.
 
Dr. Bernhard Maier
 
 
Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, herausgegeben von Klaus von See. Band 6: Europäisches Frühmittelalter, Band 7: Europäisches Hochmittelalter, Band 8: Europäisches Spätmittelalter. Wiesbaden 1978—85.

Universal-Lexikon. 2012.

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